Andreas Richter betrachtet den Stapel von Zeichnungen, der vor ihm liegt, wie ein Vater, der durch die Seiten eines Familienalbums blättert. Jede Skizze weckt Erinnerungen. Ein kleines Detail oder ein roter Bleistiftstrich des Mannes, den er heute noch „Herrn Birkenstock“ nennt. All diese Bilder erinnern ihn an die vielen Jahre, die er mit Karl Birkenstock zusammengearbeitet hat.
Die beiden Männer lernten sich Anfang der 1990er Jahre kennen, als Birkenstock in Ostdeutschland nach neuen Produktionsstandorten Ausschau hielt. „1992 setzte mich Herr Birkenstock an einen Computer und sagte: ‚Ich möchte neue Schnallen produzieren. Zeigen Sie mir, was Sie können‘“, erinnert sich Andreas Richter. „Meine Ideen müssen ihn überzeugt haben, denn er fragte mich, ob ich mit ihm zusammen neue Schnallen entwerfen und eine komplett neue Schnallenproduktion aufbauen wolle. Natürlich sagte ich zu. So entstand eine langjährige Zusammenarbeit, die mir viel Freude bereitet hat.“
Die beiden entwickelten ein gemeinsames Ritual, das in all den Jahren gleichblieb. Die Hauptaufgabe von Andreas Richter bestand immer darin, die Anweisungen von Karl Birkenstock in technische Zeichnungen umzusetzen, die für die Produktion der Schnallen verwendet werden konnten. „Herr Birkenstock hat mir seine Skizzen gefaxt. Ich machte einige Anmerkungen und er korrigierte seine Zeichnungen. Manchmal musste ich ihm sagen, dass einige seiner Vorschläge in der Praxis nicht umsetzbar waren. Herr Birkenstock hat dann intensiv überlegt, wie er mir klarmachen kann, dass er dies oder jenes will, aber manchmal ist er auch meinen Ratschlägen gefolgt“, sagt der Rentner und lächelt.
Die beiden trafen sich regelmäßig für mehrere Tage, um an Projekten zu arbeiten. „Ich fuhr um 20 Uhr von zu Hause los, um rechtzeitig um 7 Uhr morgens in der alten Firmenzentrale in Bad Honnef zu sein“, erzählt Andreas Richter, der in Ostdeutschland wohnte. „Die Sekretärin von Herrn Birkenstock bot mir Brötchen an, und nach einem schnellen Frühstück machten wir uns an die Arbeit. Er machte eine Zeichnung, ich übertrug sie auf den Computer und am nächsten Tag ging es wieder von vorne los. Die nächste Schnalle, die nächste Form, denn oft hatte er sich über Nacht schon wieder etwas Neues ausgedacht!“
Der Markenname Birkenstock war das Hauptmerkmal jeder Schnalle. Auf den kleinen Schnallen stand nur BIRKEN, auf den ganz kleinen nur BIRK – und daran hat sich bis heute nichts geändert. Jedes noch so kleine Detail wurde hitzig diskutiert. „Von den ersten Zeichnungen bis zur Produktion einer Schnalle in unserem Werk konnten Jahre vergehen“, sagt Andreas Richter. Qualität hat eben ihren Preis.
In den 1980er Jahren ließ Birkenstock die Schnallen für seine Sandalen von verschiedenen Firmen herstellen, doch jedes Produkt sah anders aus – sehr zum Unmut von Karl Birkenstock, der sich daraufhin entschloss, die Teile selbst zu fertigen. „Für viele sind diese Schnallen einfach nur ein Stück Blech, aber für Herrn Birkenstock waren sie eines der Markenzeichen seiner Sandalen“, fährt Andreas Richter fort. „Sie waren für ihn das wichtigste i-Tüpfelchen – so wie der Stern auf der Motorhaube eines Mercedes. Man kann sagen, dass die Schnallen eine seiner größten Leidenschaften waren.“
Obwohl er immer behauptete, nur ein Schuhverkäufer zu sein, war Karl Birkenstock ein echter Experte, der im Laufe der Jahre zu einem wahren Meister der Technik wurde. Als er einmal für 14 Tage in den Urlaub fuhr, verbrachte er allein 12 Tage damit, Fabriken zu besichtigen, mit Experten zu sprechen und Informationen zu sammeln. „Während einer Autofahrt vertraute er mir sogar mal an, dass auf seiner Toilette ein ganzer Stapel Metallbauzeitschriften lag. Wenn wir – in der Regel in Begleitung seiner Frau – eine Messe besuchten, war er nicht mehr zu bremsen. Seine Frau lief immer hinter ihm her, um seinen Anzug zu bürsten. Er selbst ging von Stand zu Stand und unterhielt sich mit den Leuten. Oft sagte er zu mir: ‚Man muss nur mit den Leuten reden, dann lernt man eine ganze Menge.‘ Herr Birkenstock war immer sehr dynamisch und voller Energie.“ Sein Wissensdurst und der Wunsch, immer besser zu werden, führten zur Entwicklung von Schnallen, die bis heute zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren von Birkenstock gehören. „Dieser Perfektionismus ist fest in unserer DNA verankert. Stellen Sie sich vor, Sandalen in die ganze Welt zu verkaufen, die alle möglichen Qualitätsstandards erfüllen müssen, und dann mit irgendwelchen billigen und unförmigen Blechteilen verunstaltet sind – das wäre einfach unvorstellbar.“ Während er das sagt, blättert Andreas Richter durch die Zeichnungen in seinem dicken Ordner, auf den er ein Lenin-Zitat geschrieben hat: „Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit“. Karl Birkenstock hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können.